Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein - Predigt von Pfn. Carolin Reichart über Johannes 8,2-11

Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein - Predigt von Pfn. Carolin Reichart über Johannes 8,2-11

Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein - Predigt von Pfn. Carolin Reichart über Johannes 8,2-11

# Gottesdienst

Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein - Predigt von Pfn. Carolin Reichart über Johannes 8,2-11
BIBEL: Frühmorgens aber kam Jesus wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Da stehen sie mit Steinen in der Hand.

Ausgerechnet auf dem Schulhof – die alte Frau Schreiber, die vorübergeht, sieht vor ihrem inneren Auge wieder die Linie von damals, als Katholiken und Protestanten auf dem Pausenhof noch strikt getrennt wurden.

Jetzt stehen da all die Jungs aus der Nachbarschaft – alles deutsche Jungs, aber die einen muslimischen Glaubens, die anderen getauft und Ben ist auch dabei, von dem bis gestern noch niemand wusste, dass er Jude ist.

Sie stehen einander gegenüber, brüllen sich Beschimpfungen ins Gesicht, spucken vor den anderen aus. Eigentlich ist heute Nachmittag Fußballtraining – da bildeten sie bis gestern noch eine Mannschaft: Achmed als bester Stürmer, Finn, ein 1-A Keeper, Ben – immer aufmerksam als Innenverteidiger. Doch jetzt spielen sie einander nicht die Bälle zu, jetzt wiegen sie die Steine in ihren Händen – gleich werden sie fliegen, - wie damals - denkt die alte Frau Schreiber.

Eine Demo in Berlin Neukölln. Molotowcocktails mit Feuerschweif fliegen durch die Luft. Ein Stein zertrümmert die Schaufensterscheibe, ein anderer trifft den Polizisten genau auf das Visier seines Helms. Die alte Frau Jahnke im 3. Stock merkt, wie Ihre Hände anfangen zu zittern – sie war damals grad 4 als schon mal Steine und brennende Fackeln flogen und das Bekleidungsgeschäft der Goldsteins ausbrannte, Menschen deportiert und erschossen wurden. Haben die denn alle nichts gelernt?

Steine fliegen in Luhansk, in Bergkarabach, im Jemen, im Gazastreifen…

Da stehen auch sie, die - ach so ehrbaren – Männer mit der vorgeblich weißen Weste auf dem Tempelvorplatz: die Rechtslage ist eindeutig: Ehebruch wird geahndet – die Steine werden das Urteil vollziehen. Man muss gut zielen, damit erst möglichst viele Knochen brechen und nicht gleich ein Wurf auf den Kopf einen zu schnellen Tod bringt.

Wollen wir doch mal sehen, wie sich dieser Jesus dazu verhält.

Hinter der Tür Ihrer Hütte steht die alte Lea und schaut durch den Spalt auf den Platz – sie hat die Burschen alle groß werden sehen – weiß genau, dass Moshe seine Kinder schlägt, Sha‘ul heimlich Geschäfte mit den Römern macht, Jakob die Herzen unzähliger Mädchen gebrochen hat, ehe er die mit der größten Mitgift heiratete. Das Geld hat er inzwischen alleine durchgebracht.

Jetzt stehen sie da – so selbstgerecht – so triefend von der Überzeugung, dass Unrecht verübt wurde und Vergeltung rechtmäßig ist. Sie wiegen die Steine in ihren Händen. Lea weiß, wie Rache die Gesichter der Menschen zu Fratzen verzerren kann. Sie hat Männer gesehen, die sich gierig die Steine aus den Händen rissen, um nochmal zu werfen. Sie hat eine Freundin unter Steinen verbluten sehen.

„Hat das denn nie ein Ende“, denken die alten Frauen. „Muss sich alles immer und immer wiederholen? Warum können wir nicht in Frieden miteinander leben?“

Das Grölen der Männer wird lauter. Wird sich Jesus über das Gesetz stellen? Regeln, die von allen anerkannt werden, sind doch der Garant für sozialen und politischen Frieden.

Hielten sich alle an die Menschenrechte – kein Stein flöge jemals wieder.

Jesus denkt an Mose – stellt sich vor, wie der die 10 Gebote in Stein gemeißelt hatte. Noch in seiner letzten Predigt hat er selbst vollmundig erklärt, nicht ein Iota – nicht ein I-Tüpfelchen davon aufgeben zu wollen. Wie sich jetzt verhalten? Er spürt das herausfordernde Grinsen der Selbstgerechten. Breitschultrig und angriffslustig haben sie sich vor ihm und der Angeklagten aufgebaut, hochaufgereckt, um gut werfen zu können, mit Blicken von oben herab, die Pfeile schießen.

Jesus braucht einen Perspektivwechsel, um nachdenken zu können. Er beugt sich runter - hockt sich hin.

Jesus in der Hocke – am Boden, wo die Meute auch die Frau sehen will. Jesu Blick- nicht von oben herab – sondern von unten.

Er schiebt ein paar Steine, die vor seinen Füßen liegen, hin und her. Was soll er tun? Es kann doch nicht der Weg sein, die guten Ordnungen Gottes für übertrieben zu erklären, sie beliebig außer Kraft zu setzen, sie einfach aus Mitleid nicht gelten zu lassen. Aber genauso wenig kann zum Töten auffordern…

Seine Finger schreiben die alten Worte, mit den die 10 Gebote beginnen, in den Sand. „Ich bin der Herr, Dein Gott, der Dich aus Ägyptenland befreit hat. Du sollst….“ Er hält inne und lässt Sand und Staub durch seine Finger rinnen. Aus Sklaverei in die Freiheit geführt… – aus dem Tod ins Leben… Zum Geleit ins Leben, sind doch die Gebote verfasst.

Vor ihm Steine, Schotter, Sand..

„Sand sind eigentlich zermahlene Steine“, denkt Jesus. Die Alternative muss gar nicht sein, Gesetze auszuhebeln – aber genauso wenig sind sie doch dazu da, andere damit zu erschlagen… Ihre Substanz soll bleiben, Ihre Wirkung aber Leben schützen. Seine Fingerspitzen spüren genau die Verwandtschaft zwischen Sand und Steinen….

Unter dem Sand vor seinen Füßen wird die Erde sichtbar. Noch so eine Assoziation, die in ihm aufsteigt: Von einer Handvoll Erde sind wir alle hier

Erde: der Stoff, aus dem Gott den Menschen machte: den geifernden Angreifer genauso, wie jedes leidende Opfer. Und schuldlos ist seit Adam und Eva eh keiner mehr.

Erde – Humus – Humilitas – die mit dem Wort „Erde“ verwandte lateinische Vokabel für Demut.

Was meint denn DEMUT anderes, als das Eingeständnis: ein fehlbarer, schwacher, ein auf andere angewiesener Mensch zu sein. Eingestehen: meine Substanz macht wirklich nicht viel her: eine Handvoll Erde – genau, wie alle anderen. Kein Grund sich aufzuspielen…

Was Menschen Würde verleiht, ist dass Gott diese Handvoll Erde formte,

ihr mit Fingerspitzengefühl Kontur gab:

einen Rücken für die Aufrichtigkeit.

Hände zum Arbeiten und für die Zärtlichkeit – besser geeignet, sie einander zu reichen, als sich damit zu prügeln.

Füße für den Weg des Friedens,

Augen für die Schönheit und das Bildnis Gottes im anderen,

einen Mund, um Brot und Wein zu kosten, Worte zu sprechen, - ach wären es doch nur die Guten….

Und einen Kopf und ein Herz.

Jesus malt beides in den Sand. „Bevor‘s mir ganz poetisch ums Herz wird,“ denkt er sich: „vertraue ich mal darauf, dass Gott uns doch auch ein fleischernes Herz als Sitz des Verstandes gegeben hat, Einsicht und Reflexion, Selbsterkenntnis und Wahrhaftigkeit.

Menschen ohne Schuld gibt es nicht, weder auf Schulhöfen, noch auf Demos, weder im Gazastreifen, noch in Israel, weder am Kaffeetisch der alten Frauen, noch in dieser Kirche – und auch nicht auf jenem Jerusalemer Tempelplatz unserer Geschichte.

 

Jesus strafft den Rücken und erhebt sich. Die Steine zu seinen Füßen - Sand in der Hand, den er langsam zu Boden rieseln lässt. Sein klarer Blick geht in die Runde:

Was würde sie bringen, die Diskussion über Gesetz und Strafen, über Recht und Ordnung, über Terror und Vergeltungsschläge? Doch wieder nur großes Geschrei, Rechthaberei, viel zu locker sitzende Fäuste …

 

Wer unter Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

 

Mit diesem einen Satz lenkt er den Fokus weg vom Gesetz - hin zu der menschlichen Unfähigkeit, es einzuhalten, gerecht zu sein…

Mit diesem einen Satz wird deutlich, dass eigentlich niemand von uns ungeschoren davonkäme.

– Gott sei Dank bekommen wir nicht das, was wir verdienen.

- Gott sei Dank hat Gott kein steinernes, sondern ein lebendiges Herz

- er heißt Fehlverhalten nicht gut, aber wenn sich etwas ändern soll, dann geht das nur, wenn Menschen eine neue Lebenschance bekommen.

- Zusammenleben wird nur gelingen, wenn alle ihre Vorläufigkeit eingestehen, Ihrer Begrenztheit, ihre eingeschränkte Perspektive – Zusammenleben wird gelingen: wenn Menschen gemeinsam erringen, was das Lebens- und Siedlungsrecht aller schützt.

 

Jesu Worte gehen den Männern unter die Haut und an ihre Substanz – (diese kleine Hand voll Erde) – sie treffen auf eine Weise, wie vielleicht nur Worte treffen, die aus dem Mund Jesu kommen, dem Christus, die neu leben lassen: demütig und wahrhaftig.

Vielleicht gibt es für diese Welt ja doch noch Zukunft und Hoffnung denkt sich Lea und schickt ein Stoßgebet gen Himmel, Gott möge doch alle Waffen zu Sand zerfallen lassen.

AMEN

 

Und der Friede Gottes, der höher ist, als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus à AMEN

 


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